Mode 1929
In den ausgehenden Zwanziger Jahren vollzieht sich ein deutlicher Wandel in der Mode. Der Trend des Jahres 1929 heißt Weiblichkeit. Der sportliche Jumper für den Tag verliert zunehmend an Bedeutung. Der Trend der Abendmode, der sich in der letzten Saison gezeigt hat, bahnt sich nun seinen Weg in die Tagesmode. In der Frühjahrssaison sieht man in deutschen Modezeitschriften wie Die Dame oder der Eleganten Welt generell nur noch Kleider mit natürlich angesetzter, hoher Taillierung. Durch die höhere Taille und den sich lebendig bewegenden Rock entsteht eine elegantere, femininere Mode, die damenhafte Formen wieder betont.
Frühjahrsmode offenbart neue Linien
Noch aber zeigt sich die Mode im Frühjahr und Sommer in einem Mischstil, wie Johanna Thal im zweiten Frühjahrsmodenheft der Dame vom März ausführt.1 Neben der neuartigen reich geschmückten, überschwänglich weiblichen Kleiderlinie präsentieren sich auf der anderen Seite übertrieben einfache Kleider, hinsichtlich des Schnitts und der Aufmachung. Hierzu gehören die schlichten Jersey- und Tweedkleider, die für den Sport oder als schlichte Straßenkleider fungieren.
Besonders charakteristisch für die Damenmode 1929 sind Biesen und aufgearbeitete Blenden in schräger, runder oder spitzer Form, die in ihren geometrischen Anordnungen fast wie architektonisch, geplante Arbeiten wirken. Gerade die einfacheren Tageskleider aus ungemusterten Stoffen werden mit den Blendenverzierungen deutlich aufgewertet und geben eine gewisse Abwechslung.
Glockig weite Röcke verdrängen zunehmend den geraden einfachen Rock. Mehrfach gestufte Volants, Stoffdrapierungen und angenähte Stoffteile, die den Rocksaum überragen, erzeugen asymmetrische und ungleichmäßige Rocksäume welche die Frühjahrs- und Sommermode 1929 bestimmen. Luftig flatternde, bunt gemusterte Stoffe und kleine Verzierungen, wie Schleifchen in verschiedensten Größen, geben vor allem den Nachmittags- und Gesellschaftskleidern eine verspielte und erfrischend weibliche Note.
Die Frühjahrs- und Sommermode zeigt sich weiblich und verliert zunehmend die strenge, gleichförmige Line. Auch das amerikanische Magazin Ladies Home Journal bemerkt in der Mai Ausgabe im Artikel „Variety Returns to the Street Mode“ den sich abzeichnenden Wandel:
„Für die elegante Frau hat die ‚Uniform’ ausgedient. Individualität bringt weiblichen Charme wieder zurück in die moderne Mode.“2
Für die Frühjahrssaison zeigt das Ladies Home Journal zwar einige Modelle von Jean Patou, Paul Poiret oder Lenief mit leicht höherer Taillierung, jedoch reagieren noch viele amerikanische Magazine mit Zurückhaltung auf die sich abzeichnende neue Mode.
Dramatischer Modewandel im Herbst
Im Spätsommer kündigt sich eine dramatische Veränderung in der Mode an: die neuen Modelle der französischen Haute Couture zeigen durchweg eine höhere Taillierung an der natürlichen Taille und auch die Rocksäume für die Tagesmode werden deutlich länger. So enden die Röcke nun wieder deutlich unter dem Knie.
Aber vor allem in der Abendmode zeigt sich der Wandel am deutlichsten. Hier zeigen sich wieder sehr hoch taillierte Kleider, die Rocksäume werden wieder bodenlang. Die neue Mode bringt aber nicht nur eine neue Silhouette, sondern auch eine völlig veränderte Art der Frauen sich zu Bewegen mit sich, wie die Zeitschrift Die Dame im ersten Oktoberheft 1929 unter der Überschrift „Modewandel“ berichtet:
„Verkörperung der modischen Linie ist in diesem Jahre das Abendkleid. […] Man hat oft und viel von einer neuen Weiblichkeit, von einem neuen femininen Stil gesprochen. Jetzt ist er wirklich da, dieser neue, weibliche Stil, der im besten Sinne des Wortes damenhaft ist. […] Die leise Ermüdung an den Dingen der Mode, die die Frauen empfunden haben nach der ewigen Gleichförmigkeit der Kleider, ist verschwunden. […] Sehr langgestreckt und schmal erscheinen die Frauen in diesen neuen Kleidern. Die hohe Taille bringt die Brust zur Geltung, die kunstvolle Linienführung aller Schnittnähte macht die Hüften ganz schmal und kindhaft. Die stoffreiche Länge des Rockes fesselt die Beweglichkeit der Beine und schafft eine ruhige, selbstbewußte Haltung. Gang wird schreiten. Sportliche Unbekümmertheit wird abgeschliffen zu ruhiger, vornehmer Damenhaftigkeit.“3
Die neue Mode polarisiert: Viele begrüßen die neue Silhouette, da der lange Rock die weibliche Figur verlängert und damit schlanker erscheinen lässt. Auch die damit verbundene elegante Wirkung wird sehr positiv beurteilt. Andere sehen allerdings die neu gewonnene Freiheit und erreichte Emanzipation der Frau, die ihren Ausdruck in kurzen Röcken und der männlichen Erscheinung fand, durch den scheinbaren Rückgriff der Mode auf überwunden geglaubtes, als gefährdet an.
Madeleine Vionnets Bias Schnitt
Eine Vorreiterin der neuen Silhouette - auch Prinzessmode genannt - ist die französische Modeschöpferin Madeleine Vionnet. Sie kreiert den Bias Schnitt (Schräg- oder auch Diagonalschnitt) bei dem der Stoff diagonal zum Fadenverlauf des Stoffes geschnitten wird. Durch diesen Schnitt wird ein umfließen des Körpers durch das fertige Kleid erreicht bei dem der Stoff so fällt, dass er sich optimal den Körperformen anpasst. Ungewöhnlich ist auch die Arbeitsweise von Madeleine Vionnet: Sie probiert ihre Entwürfe zuerst an kleinen Holzpuppen aus bevor sie diese ihren Mannequins oder Kundinnen auf den Leib schneidert. Obwohl der Diagonalschnitt in den späten 1920ern immer größere Bedeutung erlangt, erfährt er seine größte Popularität in den 1930er Jahren.
Versandhäuser vorsichtig
In den Frühjahrs- und Sommer Katalogen der US-Versandhäuser wird der sich abzeichnende Wandel kaum reflektiert. In der Korsettsektion des Frühjahrskataloges der Firma Montgomery Ward wird aber festgestellt, dass „Paris jetzt, mehr denn je, die neuen Figurlinien beeinflusst.“4 Erst in den Herbst- und Winter Katalogen bahnen sich zaghafte Veränderungen an. Sears zeigt eine begrenzte Auswahl an Kleidern in der alten Linie in Vorbereitung eines Sortimentswechsels. National Bellas Hess fasst für ihre Käuferinnen die neuen Merkmale der aktuellen Herbstmode wie folgt zusammen: glockige Röcke von der natürlichen Taille abwärts und unregelmäßige Rocksäume für Kleider sowie die Prinzesslinie und Rückencapes auch für Mäntel.5 Dagegen stellt der Herbst/Winter Katalog der Firma Montgomery Ward im Vorwort die Wichtigkeit von „verschwenderischem Pelzbesatz an Mänteln“6 heraus, betont aber auch, dass „Paris […] die höhere Taillenlinie [betont].“7
Kappen und Toques verdrängen Topfhüte
Die in den letzten Jahren so beliebten Glockenhüte werden langsam von Filzkappen und Toques ohne Krempe verdrängt. Vorhandene Krempen werden umgeschlagen und mit Nadeln befestigt oder mit Hilfe von Zierornamenten angenäht. Charakteristisch für diese Kappen ist, dass sie den Kopf eng umschließen.
Besonders charakteristisch ist in der Hutmode des Jahres 1929, ähnlich wie in der Sommermode, die Liebe zur modischen Asymmetrie: die Kappen werden einseitig ins Gesicht gezogen, wodurch die Stirn einseitig frei gelegt wird, die andere Gesichtshälfte aber leicht kaschiert wird. Unterstrichen wird diese asymmetrische Wirkung noch durch zusätzlich angehängte Filz-, Stroh-, Feder- oder Bandflügelapplikationen, die die bereits leicht kaschierte Gesichtshälfte, ein Ohr, die Wange, die Kinnlinie oder sogar ein Stück des Halses, noch weiter verbergen.
Elegante Damenschuhe
Die Damenschuhe werden gegen Ende der 20er immer abwechslungs- und ideereicher. Einige Schuhe weisen sehr große Ausschnitte auf; nur die Ferse und die Zehen werden noch vom Leder des Schuhs umschlossen. Schnallenschuhe mit einer einfachen oder mit einer T-Schnalle sind keine Seltenheit. Schuhe aus zwei verschiedenen Lederarten geben den Schuhen farbliche Abwechslung. Strassapplikationen, Schleifen, angenähte Lederverziehrungen, Ausstanzungen und verschiedenste Schnallenarten lassen der Phantasie in der Schuhmode freien Lauf.
Hohe, spitze Absätze sind für den Abend gebräuchlich, während die Schuhspitze anders als zu Beginn der Dekade abgerundet statt spitz geformt ist. Ein ein eher konservativer Schuhtyp dagegen ist der Oxford. Dieser ist hoch geschlossen, der Absatz ist eher niedrig und der Schuh besitzt statt einer Schnalle Schnürsenkel. Für sportliche Aktivitäten werden Oxfords vor allem mit ganz niedrigen Absätzen bevorzugt.
Breite Revers und betonte Taille in der Herrenmode
Der Sakkoanzug ist der wichtigste Bestandteil der Herrengarderobe. Breite Schultern, weder eckig noch rund gepolstert, eine gut betonte Taille und eine gleitende Hüftpartie kennzeichnen die aktuelle Modesilhouette. Weit ausladende Revers in gerader oder steigender Fasson sind modisch; die Kragen bei Ein- und Zweireihern sind mittelbreit und nicht zu hoch im Nacken. Ob einreihig oder zweireihig bleibt dem persönlichen Geschmack des Trägers überlassen. Einreihige Sakkos werden mit 2 oder 3 Knöpfen gearbeitet, während Zweireiher meist auf 3 Knopfpaare gearbeitet werden. Auch das oberste Knopfpaar kann dem Verschließen dienen.
Anders als in den Vorjahren sind die Sakkos etwas länger geschnitten. Fast unauffällig ist der flaschenförmige Schnitt der Ärmel; sie verjüngen sich zum Unterarm. Ähnlich verhält es sich mit den Hosen. Die Hosen haben oben ihre Weite beibehalten, werden aber zum Knie enger. Westen in hellen Farben sind immer zweireihig.
Bevorzugte Anzugstoffe für den Herbst 1929
Die bevorzugten Anzugstoffe sind Kammgarne vorrangig aus Wollstoffen. Die Stoffe sind glatt, gemustert oder sogar angeraut, hart gedrehte, sowie lockere Gewebe, Saxons, schwere Gabardine und Cheviots. Ausgesprochen kleine Musterrungen in großer Fülle stehen in entweder auffälliger oder dezenter Musterung zur Auswahl. Sie reichen von Karos, Punkten, Sprengeln über Melangen und Figuren bis hin zu Streifendessins.
Kombinierter Anzug oder Cut für formelle Anlässe
Für besondere private oder offizielle geschäftliche Besuche, sowie bei kleineren Essen oder zum 5-Uhr-Tee wird der kombinierte Anzug - ähnlich dem Stresemann - getragen. Dieser besteht aus einer schwarzen Jacke, einer schwarz-weiß gestreiften oder silbernen Hose und einer zweireihigen Weste, die immer hell sein sollte. Noch förmlicher und festlicher wirkt natürlich der Cutaway, der nur mit gestreifter Hose getragen wird. Das Jackett wird mit nur einem durchgeknöpften Knopf getragen. Der Schoß sollte möglichst schmal geschnitten sein und gefällig fallen; Ausnäher an Taille und Schoß ermöglichen dem Jackett einen besseren Sitz. Im Rücken befinden sich über der geteilten Schoßfalte zwei Zierknöpfe in Taillenhöhe.
Smoking und Frack für Abendgesellschaften
Für den festlichen Abend sind Smoking und Frack unentbehrlich. Der Smoking ist für gewöhnlich einreihig und wird auf einem Knopf geschlossen. Ähnlich den Sakkos für den Tag sind auch hier die Revers sehr breit geschnitten, werden aber - was besonders modisch ist - gern mit glänzender Seide besetzt. Der Frack, der zweifelsohne immer noch das festlichste Herrenkleidungsstück darstellt, wird mit drei Knöpfen gearbeitet. Die Vorderteile stehen etwa 20cm auseinander. Die Schöße sind so schmal und liegen so weit hinten, dass der Herr ohne Probleme die Hände in die Taschen stecken kann. Als Kopfbedeckung für den Frack kommt nur ein Zylinder in Frage. Die Westen für Smoking und Frack sind meist aus Leinenbatist oder Waschleinen.
Mode aus Katalogen und Zeitschriften des Jahres 1929
Fußnoten
1 Vgl. Thal, Johanna, o. T., in: Die Dame, Nr. 13 (56), Zweites Märzheft 1929, S. 20-21, hier S. 20.
2 Das englische Originalzitat lautet: „For the day of the ‚Uniform‘ for smart women has passed, and individuality brings back feminine charm to the modern mode“. O. V., Variety Returns to the Street Mode, in: Ladies' Home Journal, Nr. 5 (46), Mai 1929, S. 54.
3 Kaul, Stephanie, Modewandel, in: Die Dame, Nr. 1 (57), Erstes Oktoberheft 1929, S. 16.
4 Originalzitat: „Paris Influences Now, More Than Ever, the New Figure Lines“, Montgomery Ward & Co., Katalog Nr. 110, Chicago, Frühjahr/Sommer 1929, S. 145.
5 Vgl. National Bellas Hess Co., Inc., Katalog Nr. 219, Kansas City, Herbst/Winter 1929-30, S. 6 u. 40.
6 Originalzitat: „lavish fur on coats“, Montgomery Ward & Co., Katalog Nr. 111, Chicago, Herbst/Winter 1929-30, S. 6.
7 Originalzitat: „Paris emphasizes [...] the higher waistline“, ebda.