Die Zwanziger Jahre

Titelseite der Zeitschrift Die Dame (Herbstmodenheft) in der Hochzeit der Hyperinflation zum Preis von 5 Mio. Mark — Die Dame, Nr. 24 (50), Ende September 1923. Grafikerin: Julie Haase-Werkenthin (1882-1960)

In den 1920ern veränderte sich die Mode radikal. Doch dieser Wandel war kein Zufall, sondern Folge eines drastischen gesellschaftlichen Umbruchs. Vor allem der Eindruck des ersten Weltkriegs brachte unumkehrbare Umwälzungen mit sich, die einen vollkommen veränderten Zeitgeist kreierte. In den zwanziger Jahren erodierten die vergangenen Vorstellungen von Moral. An ihre Stelle traten neue Auffassungen, die gleichzeitig den Aufbruch in die Moderne nach heutigem Verständnis markierten.

Politische und wirtschaftliche Krisen

Filmschauspielerin Peggy Longard in einem Sommerkostüm mit seitlich gebundener Weste und ein Sportkostüm — Elegante Welt, Nr. 11 (10), Mai 1921, S. 9; Chicago Mail Order Co., Frühjahr/Sommer 1922 S. 2C. Foto (links): Ernst Sandau
Damenhüte aus Seiden-Taft, Hanf und verschiedenen Stroharten. Hahn- und Straußen-federn, Wollstickereien, Seidenblumen und Plisseerosetten aus Ripsband dienen als Zierrat Chicago Mail Order Co. Frühjahr/Sommer 1922, S. 2

Die Welt war nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs nicht mehr dieselbe wie vor dem Krieg. Die alte europäische Ordnung zerfiel unwiderruflich. Über 10 Millionen Soldaten aller Kriegsparteien waren gefallen oder vermisst, doppelt so viele waren durch den Krieg zu Invaliden geworden. Europa hatte seine politische Vormachtsstellung in der Welt eingebüßt und war wirtschaftlich ruiniert. Nordfrankreich und Belgien waren durch den vierjährigen Krieg verwüstet. Versorgungsengpässe bestanden auch noch weit über das Kriegsende im November 1918 hinaus und die politische Landkarte Europas wurde durch den Frieden von Versailles im Juni 1919 völlig umgestaltet.

Während in Russland durch die Oktoberrevolution 1917 die Kommunisten an die Macht kamen, wurdr das neue eigenständige Österreich zu einer parlamentarischen Demokratie. Auch Deutschland wurde nach der Abdankung Kaiser Wilhelms II. 1918 zu einer Demokratie, die jedoch politisch äußerst instabil war. Die Weimarer Republik wurde von Krisen und Putschen erschüttert, die erst nach der Hyperinflation von 1923 eine Phase der relativen wirtschaftlichen und politischen Ruhe erfuhr. Weniger geschwächt aber kriegsbedingt hoch verschuldet waren auch die vermeintlichen Siegerländer Großbritannien und Frankreich.

Allein die Vereinigten Staaten schienen gestärkt aus dem Great War1 hervorzugehen. Die aufstrebende Industrienation war nicht mehr als bloße ökonomische, sondern nun auch als bedeutende politische Macht auf der Weltbühne etabliert. Doch auch die USA erlebten nach dem Krieg durch Streiks und Ausschreitungen unruhige Zeiten. Der hohen kriegsbedingten Inflation wurde erst durch die einbrechende Nachfrage ab 1919 ein Ende gesetzt. Es folgte ein drastischer Preisverfall, durch den die US Wirtschaft in eine schwere Rezessionsphase geriet, die erst 1920/21 ihren Höhepunkt erreichte.

Der Erste Weltkrieg als Kulturschock

Die Elegante Welt stellte 1921 auf dem Höhepunkt der Tanzbegeisterung den Shimmy und den Schottisch Espagnole vor — Elegante Welt, Nr. 3 (10), 2. Februar 1921. Titelbild: A. M. Cay (1887-1971)

Neben politischen Erdbeben und wirtschaftlichen Turbolenzen hinterließ der Weltkrieg eine traumatisierte Gesellschaft, die durch die Not und Grausamkeiten des Krieges vieler Illusionen beraubt war. Die Katastrophe des Weltkrieges, die im Nachhinein auch zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“2 erklärt wurde, wirkte als gewaltiger Kulturschock und erschütterte das Weltbild einer ganzen Generation nachhaltig. Diese Zäsur in der Geschichte des 20. Jahrhunderts führte in vielen Bereichen zu einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit und gab neuen Denkweisen und Strömungen auftrieb, die sich schon vor dem Krieg langsam entwickelten. Architekten und Künstler brachen mit den historischen Traditionen und suchten nach neuen der Zeit angemessenen Ausdrucksformen. Literatur, Theater und das junge Medium Film beschritten neue Wege und versuchten das Trauma des Krieges zu verarbeiten.

Das Ende des Krieges wurde in ganz Europa und in Übersee mit großer Erleichterung wahrgenommen. Das Gefühl den Krieg mit all seinen Nöten, Anstrengungen und Schrecken überlebt und überstanden zu haben, weckte in einer ganzen Generation eine ungeheure Lebenslust. Ein Gefühl des „Hoppla wir leben!“3 bestimmte vor allem die unmittelbare Nachkriegszeit. Nach Jahren der alltäglichen Schwere, Ungewissheit und Entbehrungen wollte man sich wieder ungeniert amüsieren und suchte nach Zerstreuung und Unterhaltung jeder Art. Die Tanzbegeisterung war enorm, viele Tanzveranstaltungen waren völlig überlaufen. Kabaretts, Varietés, Theater, Opernhäuser, Lokale und Lichtspielhäuser erlebten nach dem Krieg einen wahren Boom, der auch in den folgenden Jahren ungebrochen blieb. Vor allem das Ende des öffentlichen Tanzverbotes im Deutschen Reich zu Silvester 1918/19 führte zu einer wahren Tanzwelle, trotz der politisch brisanten Lage in Deutschland:

„Die Luft ist wie elektrisch geladen, eine politische Hochspannung ohnegleichen. Der Boden von Berlin glüht. So ist das alte Jahr zu Ende gegangen: in fiebernder Erregung, und es scheint, als ob man von nichts anderem wüßte als von dem Ernst der Stunde. Aber schon zieht das Konfetti sorgloser Silvesterbrüder seine Schlangen, und lebenshungrige Männer und Mädchen tanzen in das neue Jahr. Die Musik spielt in hunderten von Lokalen. Tänze über Tänze, Walzer, Foxtrott, Onestep, Twostep, und die Beine rasen wie verhext über die Diele, die Röcke fliegen, der Atem jagt. […] so ein Silvester hat Berlin noch nicht erlebt.“4

Europa im Jazz Rhythmus

Der berühmte Geiger Dajos Béla unterhielt Ende der Zwanziger mit seinem Tanzorchester die Gesellschaften des Berliner Adlon Hotels — Elegante Welt, Nr. 5 (18), 4. März 1929, S. 46. Foto: Atelier Ernst Schneider, Berlin (1881-1959)
Als zu Beginn der Zwanziger die Rocksäume noch relativ lang waren, waren dunkle Farbschattierungen und blickdichte Damenstrümpfe in Mode National Cloak & Suit Co. Frühjahr/Sommer 1920, S. 291

Mit den amerikanischen Soldaten kamen 1917 auch neue Rhythmen und die ersten Jazz-Schallplatten nach Europa. Nach Kriegsende erreichte der Jazz über Großbritannien und Frankreich auch das Deutsche Reich. Die erste Jazz-Platte in Deutschland kam im Januar 1920 auf den Markt. So eroberte amerikanische Kultur erstmals Europa. Mit der neuen Musik schwappten auch neue Tänze nach Europa, die Ausdruck einer wiederentdeckten Lebensfreude und ausgelassenen Wildheit waren. Der Shimmy eroberte 1920 Europa im Sturm und lief dem nach dem Krieg so populären Foxtrott und den Vorkriegstänzen wie dem Walzer und Tango den Rang ab. Mit dem Charleston entstand 1923 der populärste Modetanz der zwanziger Jahre, der ursprünglich aus dem Broadway-Musical Runnin’ Wild stammte und 1925 vor allem von Josephine Baker in Europa bekannt gemacht wurde. Der Black Bottom erschien 1926 auf der Tanzfläche, gefolgt vom Lindy Hop 1927.5

Gerade der älteren Generation, Moralwächtern und Konservativen erschienen die neuen Tänze als besonders anstößig und verwerflich, da sie neben den stürmischen Schrittabfolgen und den exstatischen Bewegungen zum Teil überaus erotisch aufgeladen waren. Doch die Empörung tat der Tanzwelle keinen Abbruch. Die Tanzbegeisterung wurde auch von Restaurants und Hotels genutzt, die zum 5-Uhr-Tee auf das Tanzparkett luden, während Jazzbands die neuesten Hits spielten. Vor allem in Kurorten und Großstädten wurde der Tanztee am Nachmittag mit flotter Tanzmusik zur beliebten gesellschaftlichen Veranstaltung.

Siegeszug des Films und Aufstieg Hollywoods

Die zu Beginn des Kinos nur wenige Minuten langen Filme entwickelten sich ab 1910 zu immer aufwendigeren und größeren Produktionen und wurden schließlich zur abendfüllenden Unterhaltung. Diese Entwicklung erreichte mit dem dreistündigen Monumentalwerk The Birth of a Nation des Regisseurs D.W. Griffith von 1915 seinen ersten Höhepunkt. Dieser filmische Meilenstein begründete den Ruf des noch jungen Mediums als eine ernstzunehmende Unterhaltungsform. Die Popularität des jungen Mediums wuchs so schnell, so dass bereits 1912 täglich rund fünf Millionen Amerikaner die nationalen Kinotheater besuchten.6

Während des Ersten Weltkrieges unterlag der allgemeine Kulturbetrieb immer stärkeren Einschränkungen, wohingegen das Kino eine günstige Alternative für ein breites Publikum bot. Für die Vereinigten Staaten, die nun abgeschnitten von europäischen Filmproduktionen waren, die bisher auch den amerikanischen Markt dominierten hatten, erwies sich der zuerst nur auf Europa beschränkte Krieg als eine große Chance für die US Filmindustrie. Die Filmstudios, die erst ab 1910 aufgrund besserer Produktionsbedingungen von der Ostküste nach Kalifornien umgezogen waren, konnten den Wegfall der europäischen Konkurrenz nutzen und die entstandene Lücke auf dem US Markt füllen. Innerhalb weniger Jahre avancierte das unbedeutende Hollywood nahe Los Angeles zur führenden amerikanischen Filmstadt und wurde in den Zwanziger Jahren schließlich zur führenden internationalen Filmmetropole. Dagegen konnte die nationalen europäischen Filmindustrien nach 1918 kaum noch an die Erfolge der Vorkriegszeit anknüpfen. Europa hatte seine Vormachtsstellung auch im Filmgeschäft nahezu völlig eingebüßt.

Film das neue Massenmedium

Der Prunk des alten Europa im US Kinopalast. Vestibül eines amerikanischen Filmtheathers — Aus: Fawcett, Welt des Kinos, Zürich u.a. 1928, S. 78. Foto: Paramount
Titelseiten des US-Filmmagazins Motion Picture mit den Filmstars Gloria Swanson und Laura La Plante (unten) — Motion Picture, November 1926 und Januar 1928. Illustrator: Marland Stone (1895-1975)

Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden in allen Großstädten in Europa und Nordamerika immer größere Kinos, die den Besuchern abendfüllende Unterhaltung und Ablenkung vom Alltag boten. Aus den Nickelodeons der Jahrhundertwende wurden ab etwa 1912 immer größere Lichtspielhäuser mit mehreren hundert oder sogar tausenden von Sitzplätzen. Gerade die amerikanischen Kinos avancierten zu wahren Filmpalästen, deren schiere Größe sowie prunkvolle und verschwenderische Ausgestaltung in verschiedensten historischen Stilen selbst die meisten herkömmlichen Theater der alten Welt übertrafen. Nicht nur in der Produktion von Filmen war Hollywood führend. Von den weltweit 51.103 Kinos am Ende des Jahres 1927, existierten allein in den USA rund 20.500 Kinos7 mit einer Kapazität von 18 Millionen Sitzplätzen.8 4.300 Lichtspieltheater entfielen auf das Deutsche Reich, 3.700 auf England und auf Frankreich 3.300. Weitere 3.619 Kinos exisierten in Asien und 644 in Afrika.9

Vor den eigentlichen Hauptfilmen aus Europa oder Hollywood wurden kleine Konzerte des Orchesters oder kurzweilige Aufführungen auf der Bühne vorgeführt. Es folgten Wochenschauen und Vorfilme wie beispielsweise Komödien. Auch Werbe- und Informationsfilme nutzen die zunehmende Popularität des neuen Mediums, das sich spätestens in den frühen Zwanziger Jahren zum einflussreichsten Unterhaltungsmedium überhaupt entwickelt hatte. Während in Deutschland täglich zwei Millionen Besucher die Lichtspielhäuser aufsuchten10, lag die Zahl in den Vereinigten Staaten bei über acht Millionen täglich.11 Im gesamten Jahr 1927 zählten laut L’Estrange Fawcett die Kinosäle weltweit sechs Milliarden Zuschauer, drei Milliarden davon entfielen allein auf die Vereinigten Staaten.12

Filmstars als Mode-Ikonen

Frontseiten der Versandhauskataloge des New Yorker Kaufhauses Hamilton Garment mit den Portraits der Paramount Stars May McAvoy (rechts) und Gloria Swanson — Hamilton Garment Co., Frühjahr/Sommer 1922 und Frühjahr/Sommer 1924

Um den Hunger des Millionenpublikums nach Unterhaltung zu befriedigen wurden jährlich hunderte von Unterhaltungsfilmen produziert. Schon vor den Zwanzigern kristallisierten sich erste Publikumslieblinge unter den Schauspielern heraus, deren Filme die Zuschauermassen wie Magneten anzogen und die Berühmtheiten der Theaterbühnen vergangener Tage an Popularität immer deutlicher übertrafen und in den Schatten stellten. Unter den ersten internationalen Filmberühmtheiten des noch jungen Mediums gehörten schon vor dem Ersten Weltkrieg Henny Porten, Mary Pickford, Asta Nielsen, Lillian Gish und Pola Negri. Besonders die großen Hollywood Studios wie Metro-Goldwyn-Mayer (MGM), Universal Studios, Paramount Pictures, Warner Bros., United Artists und Fox Film Corporation erkannten und nutzten das wirtschaftliche Potential, dass durch eine gezielte Imagebildung und Vermarktung ihrer zumeist weiblichen Darsteller erreicht werden konnte.

1919 wurde Gloria Swanson durch die Filme Male and Female und Don't Change Your Husband des Regisseurs Cecil B. DeMille zum ersten großen Hollywood Star der Stummfilmzeit. Allein ihre extravaganten, teilweise mit Federn und Perlen verzierten Filmkostüme und ihre neuesten zur Schau getragenen Kleider lockten in ihrer Glanzzeit das Publikum in die Kinos. Ihrem glamourösen Vorbild eiferten Frauen in aller Welt nach, wodurch Gloria Swanson zur ersten Mode-Ikone Hollywoods aufstieg. In den USA nutzten Werbung und nebenbei auch viele Versandhäuser die Bekanntheit der nun weit über die Landesgrenzen populären Hollywood Stars, um die neueste Konfektion an die Frau zu bringen. Im Frühjahrskatalog 1922 der Firma Sears, dem damals größten Versandhaus der USA, bewarb Gloria Swanson russische Stiefel.13 Auch das US Versandhaus Philipsborn's warb mehrfach zu dieser Zeit in seinen Katalogen mit exklusiv von der bekannten Gesellschaftstänzerin Irene Castle kreierten Kollektionen.

Schnittmuster zum Selbstschneidern

Liste von Vertriebsstellen für Schnittmuster des Gustav Lyon Verlags im In- und Ausland und zu monatlich und saisonal erscheinenden Titeln. Auch bestellbar über Wilhelm Opetz, Leipzig (Bestellschein) — Modenschau, Nr. 166 (13), Oktober 1926

Der Großteil Modejurnale und Handarbeitszeitschriften boten in der Zwischenkriegszeit ihren Leserinnen zusätzlich zur präsentierten Mode die passenden Schnittmuster an, die mehr oder minder einfach zu Hause an der eigenen Nähmaschine oder durch eine professionelle Schneiderin nachgeschneidert werden konnten. Führend im Vertrieb von Schnittmustern war in Deutschland der Berliner Ullstein Verlag, der die Modezeitschriften Die Praktische Berlinerin und Das Blatt der Hausfrau herausgab. Beide Blätter richteten sich vornehmlich an die breite Masse der deutschen Hausfrauen. Im Gegensatz dazu sprach die im selben Verlag erscheinende Zeitschrift Die Dame die betuchte Frau von Welt mit höchstem Anspruch und erlesenem Geschmack an.14

Für sämtliche Modelle in den drei Publikationen und in weiteren saisonal erscheinenden Alben und Katalogen bot Ullstein passende Schnittmuster in sechs Standartgrößen an. Diese seit 1912 massenhaft als „Ullstein-Schnitte“ produzierten Vorlagen konnten direkt beim Verlag per Post gegen Nachnahme bestellt werden. Schnittmuster wurden auch nach Österreich, in die Schweiz und die Niederlande versendet. Des Weiteren konnten die Schnitte in verlagseigenen Verkaufsstellen und in weiteren 1.000 Warenhäusern im ganzen Reich erworben werden.15 1927 verkündete der Ullstein Verlag stolz das Schnittmustergeschäft in Deutschland etabliert zu haben und schätzte, dass allein hier jährlich rund zehn Millionen Kleider durch Selbstschneiderei hergestellt würden.16

Den großen deutschen Markt für Schnittmuster teilte sich der Ullstein Verlag mit dem ebenfalls in Berlin ansässigen Verlag Gustav Lyon und dem Otto Beyer Verlag in Leipzig. Gustav Lyon gab monatlich die Zeitschriften Modenschau, Moderne Toiletten, Deutsche Modelle, Wiener Chic, Très Chic und Praktische Schneiderkleider sowie neun saisonal erscheinende Modenalben heraus, die teilweise mit farbigen Abbildungen aufwarteten. Normalschnitte in Standartgrößen wurden als kleiner Schnitt (Röcke, Blusen) für 0,60 RM oder als großer Schnitt (Kleider, Kostüme) für 0,90 RM zuzüglich Porto vertrieben. Zum Preis von 2,50 RM wurden für Kundinnen auch Maßschnitte angefertigt. Der Vertrieb erfolgte wie bei Ullstein über Kaufhäuser, Buchhandlungen, ein System von 24 Filialen im ganzen Reich sowie postalisch.17 Der Otto Beyer Verlag gab die monatlich erscheinenden Zeitschriften Deutsche Modenzeitung, Beyers Modenblatt sowie ab 1929 die neue linie heraus. Die nötigen Meterstoffe zum Selbstschneidern konnten in den großen Auslagen der Warenhäuser, die eine überreiche Auswahl an verschieden Stoffen in aktuellen Farben und Musterungen bereit hielten, oder über den Versandhandel erworben werden. Gerade für untere und mittlere Einkommensschichten bot die Eigenfertigung der Kleidung eine gute Möglichkeit Geld vom knappen Haushaltsbudget einzusparen.

Die neue Frau und die Mode der 1920er Jahre

Die Herrenmode zu Beginn der Zwanziger ist äußerst eng geschnitten. Das Sakko zeigt, ähnlich der Damenmode, noch eine hohe und enge Taillierung und abfallende Schultern Philipsborns Frühjahr/Sommer 1921, S. 280

Bereits 1918 knüpfte die Mode an die Vorkriegszeit an und die Röcke wurden an den Unterschenkeln wieder enger geschnitten — ein kurzes Wiederaufleben des Humpelrocks, mit dem Unterschied, dass die Röcke nun leicht kürzer getragen wurden. Doch viele Frauen wollten sich nicht mehr in das alte Rollenverständnis und die alte Mode zurückdrängen lassen. Der Versuch vieler Designer die opulente Vorkriegsmode wiederaufleben zu lassen fand kaum Anhängerinnen. So wurden die Rocksäume bis 1922 Jahr für Jahr immer kürzer. Nur kurzzeitig setzten sich 1923/24 fast knöchellange Röcke wieder durch, die jedoch in der Frühjahr/Sommer Saison 1925 schon wieder gekürzt wurden: so wanderte der Rocksaum dieses Mal sogar bis zum Knie hoch. Tatsächlich setzte sich die neue kniekurze Mode aber erst allmählich in den folgenden Jahren bis 1927 durch.

Auch die Taille begann ab 1920 von knapp unterhalb der Brust bis 1925 bis fast unter die Hüfte zu sinken. Weibliche Konturen verschwanden in der geraden Linie des Hängerkleides. Damit wurde eine sehr knabenhafte und androgyne Figur geschaffen, die scheinbar versuchte jede Weiblichkeit zu unterdrücken.

So etablierte sich erst 1925 die Mode, die wir heute so oft mit der Mode der 1920er Jahre assoziieren: kniekurze Röcke und tief sitzende Taillen — die typische Flapper-Mode. Kennzeichnend für die Mode der 2. Hälfte der 20er Jahre war eine gewisse Uniformität und Androgynität; der Schnitt der Kleider war immer sehr ähnlich. Oftmals unterschieden sich die Kleider nur im Detail, so z.B. durch die Farbkombinationen, die Musterungen der Stoffe, den Stoffen selbst oder ihrer Verarbeitung. DIE Mode der 20er Jahre hatte allerdings nicht einmal 4 Jahre Bestand. Bereits gegen Ende der 20er Jahre kamen wieder figurbetonte Kleider in Mode und man entdeckte die verloren geglaubte Weiblichkeit wieder.

So wurden schon ab 1927 wieder weibliche Formen betont und die Taille rutschte bis zum Herbst 1929 wieder an ihre natürliche Stelle. In der Abendmode tauchten bereits 1927 verlängerte Rockzipfel und Schärpen auf, welche die Rocksäume wieder teilweise verlängerten. 1928 kam das Pfauenschweif-Abendkleid auf, dessen Rock vorne kniekurz hinten aber bodenlang wurde. Diese Entwicklung beeinflusste ab 1929 auch die Tagesmode die durch einseitige oder unregelmäßige Rockverlängerungen ihren Ausdruck fand. So wurden die Rocksäume sukzessiv wieder länger bis die Rocklänge in der Tagesmode im Herbst 1929 generell wieder deutlich bis unterhalb des Knies verlängert wurde und in der Abendmode wieder zum bodenlangen Rock führte. Die neue Silhouette oder auch Prinzessmode, wie diese neue damenhafte Modelinie mit ihren längeren Röcken und der natürlichen, engen Taillierung genannt wurde, verdrängte die sportlichen Jumper- und Hängerkleider der späten 20er Jahre schnell.


Fußnoten

1 Im englischsprachigen Raum ist der Begriff The Great War als Synonym für den Ersten Weltkrieg auch heute noch gebräuchlich.

2 Dieser Wertung des Ersten Welkrieges geht auf den Diplomaten und Historiker George F. Kennan zurück, der ihn als „the great seminal catastrophe of this century“ bezeichnete. Siehe hierzu: Kennan, George F., The Decline of Bismarck's European Order. Franco-Russian Relations, 1875-1890, Princeton 1979, S. 3.

3 Titel eines Theaterstücks von Ernst Toller aus dem Jahr 1927.

4 O. V., ohne Titel, in: Berliner Tageblatt, Nr. 1 (48), 1. Januar 1919, 1. Beiblatt, zitiert nach: Glatzer, Ruth, Berlin zur Weimarer Zeit. Panorama einer Metropole 1919-1933, Berlin 2000, S. 21-22.

5 Ein Übersicht über die Tänze der zwanziger Jahre bietet die Webseite www.return2style.de unter der Rubrik „Museum“. Göbel, http://www.return2style.de/homepage.htm [letzter Zugriff: 8. Oktober 2014].

6 Mulvey, Kate; Richards, Melissa, Decades of beauty. The changing image of women, 1890s - 1990s, London 1998, S. 50.

7 Vgl. Fawcett, L’Estrange, Die Welt des Films, Zürich, Leipzig, Wien 1928, S. 79, übersetzt, frei bearbeitet und ergänzt von C. Zell und S. Walter Fischer. Die vollständige Statistik aus dem Buch ist im Wikipedia Artikel zur Geschichte des Kinos abrufbar, https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_des_Kinos [letzter Zugriff: 19. Juni 2015]

8 Die Kapazität bezieht sich hier auf das Jahr 1926. Vgl. Fischer, Lucy, American Cinema of the 1920s. Themes and Variations, New Brunswick, N.J. u.a. 2009, S. 15.

9 Vgl. Fawcett, Welt des Films, S. 79, wie Anm. 7.

10 Vgl. Scriba, Arnulf, Weimarer Republik. Kunst und Kultur, in: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/kunst-und-kultur.html [letzter Zugriff: 18. September 2015]

11 Angaben über die täglichen Besuchszahlen variieren stark. Während Lucy Fischer von 100 Millionen Besuchern im Jahr 1926 pro Woche spricht, gibt David E. Kyvig eine Zahl von 65 Millionen verkauften Tickets im Jahr 1928 an. Vgl. Fischer, Cinema, S. 15, wie Anm. 8; Kyvig, David E., Daily Life in the United States, 1920-1939. Decades of Promise and Pain, Westport, Conn. u.a. 2002, S. 80.

12 Vgl. Fawcett, Welt des Films, S. 80.

13 Vgl. Blum, Stella, Fashions of the Roaring Twenties. As Pictured in Sears and Other Catalogs, New York 1981, S. 56.

14 Vgl. Seegers, Lu, Uhu, Koralle, Die Dame und Das Blatt der Hausfrau, in: Axel Springer Verlag (Hg.), Presse- und Verlagsgeschichte im Zeichen der Eule. 125 Jahre Ullstein, Berlin 2002, S. 62-69, hier S. 59-60.

15 Vgl. Osborn, Max, 50 Jahre Ullstein, Berlin 1927, S. 61; Ilgen, Volker, Sei sparsam Brigitte, nimm Ullstein-Schnitte!, in: Axel Springer Verlag (Hg.), Presse- und Verlagsgeschichte im Zeichen der Eule. 125 Jahre Ullstein, Berlin 2002, S. 54-61, hier S. 59-60.

16 Vgl. Osborn, Ullstein, S. 60, wie Anm. 15.

17 Angaben nach ganzseitiger Eigenwerbung in der Zeitschrift Modenschau, Nr. 154 (12), Oktober 1925, S. 44.

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